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‹ alle Blogartikel anzeigen21. Juni, 2023 — Wo aber bleibt die reine Poesie? Die Bibliothek meines Vaters
Als meine Eltern Mitte der 1960er Jahre nach Weimar zogen, brachten sie Wulf Kirstens im Entstehen begriffene Bibliothek aus Freiberg mit. Vorläufig noch fristete sie ihr Dasein in Koffern und Kartons, die unter den Betten aufbewahrt wurden. In der Puschkinstraße 1, wo der Berliner Aufbau-Verlag eine Dependance eröffnet und mein Vater eine Stelle als Lektor angetreten hatte, hauste die Familie in zwei Dachkammern, bevor später eine Teilwohnung in der Prellerstraße bezogen werden konnte.
In den ersten Weimarer Jahren muss der Umfang dieser Kofferbibliothek dann sprunghaft angestiegen sein. Meine ersten Erinnerungen, die sich mit der Prellerstraße verbinden, schließen ein wandfüllendes Leiterregal in unserer Parterrewohnung ein, das lediglich eine Türöffnung aussparte. Hinter einem Vorhang lag unser schmales Kinderzimmer, in das man buchstäblich durch eine Bücherwand gelangte. Als Vierjähriger machte ich eines Tags einen Rundgang durch die zweieinhalb Zimmer und die Küche, wobei ich den von einer dubiosen Alten mitbewohnten unheimlichen Flur queren musste, die uns regelmäßig bei der Kriminalpolizei anzeigte, wenn »schon wieder etwas passiert war« – meist handelte es sich um ein gestohlenes Brikett aus dem gemeinsam genutzten Keller. Von Langeweile geplagt, traf ich die übrigen drei Familienmitglieder lesend an. Sie hatten es sich mit Büchern bequem gemacht und waren gleichsam abwesend. Keiner war bereit, seine Lektüre zu unterbrechen, um mir etwas vorzulesen. So verkündete ich wütend: »Wenn ich groß bin, verbrenne ich alle Bücher und alle Kataloge!« Das holte sie aus ihrer Abwesenheit, besonders die Erwähnung der Kataloge. Ich lernte dann lesen und tat es
den anderen bald täglich gleich. Dass ich nicht in Lesestoffnot geriet, dafür sorgte mein Vater. Über kurz oder lang las ich auch besagte Kataloge, genau genommen den Bestellkatalog des Börsenblattes, in dem Vater regelmäßig bestellte und ich Kreuze machen durfte, wo es mir beliebte. Denke ich an Geburtstage oder Weihnachten zurück, so gehörten hohe Bücherstapel immer zu den Geschenken.Über 60 Jahre wuchs Wulf Kirstens Bibliothek, deren Herzstück seine Sammlung deutschsprachiger Lyrik bildete. Das Privileg, über den Verlag und das Börsenblatt Bücher auf eigene Rechnung bestellen zu können, nutzte er weidlich aus. In den 60er, 70er und 80er Jahren gab es republikweit noch Antiquariate, in denen sich Literatur aus der Zeit vor den beiden Weltkriegen entdecken ließ. Vor allem in Prag, wo deutschsprachige Literatur nur bei wenigen auf dem Urlaubswunschzettel stand, fand er manche literarische Kostbarkeit. Sein Bruder Rainer betrieb einen Altstoffhandel in Wilsdruff und sammelte für ihn in einer Truhe Raritäten.
Nach dem Umzug in die erste eigene Wohnung holte die Bibliothek tief Atem und breitete sich auf 150 Quadratmetern aus. Das Arbeitszimmer kleidete ein Tischlermeister rundherum mit Regalen und Bücherschränken aus. Fortan blieb es der Lyriksammlung vorbehalten. Im knapp 30 Quadratmeter großen Wohnzimmer füllte eine Bücherwand die Längsseite, eine Abstellkammer wurde zur kleinen Bibliothek, wo die Regale nicht nur entlang der Wände, sondern auch in der Mitte, Rücken an Rücken, standen. Kontinuierliches Wachstum brachten Reihen, auf die mein Vater abonniert war. Etwa das »Poesiealbum«, deren viertes Heft ihm eine erste eigenständige Publikation bescherte. Dazu gehörte die Inselbibliothek und die Reihe »Lyrik international« des Verlags Volk und Welt. Auf dem Dachboden, wo uns zwei Kammern zugesprochen waren, bezogen Reclamhefte und Zeitschriften ihr Quartier.
Nach dem Ende der DDR musste die großzügig bemessene Wohnung aufgegeben werden, da sich ein Alteigentümer fand, der hier sanieren wollte. Eine Wohnung in derselben Straße, vierzig Hausnummern niedriger, wurde gefunden. Die kleinere Wohnung vermochte die auf Zuwachs angelegte Bibliothek bei weitem nicht zu fassen. Ein trockener Keller erwies sich als Glücksumstand für einstige Dachbodenbestände. Einiges musste veräußert werden. So einige Reihen und eine Sammlung deutschsprachiger Literatur aus Siebenbürgen. Herz- und Kernstück blieb die Lyriksammlung, die nach 1990 einen neuerlichen Wachstumsschub erhalten hatte. 1993, als Wulf Kirsten Stadtschreiber in Salzburg war, freundete er sich mit einem hochbetagten Antiquar an, in dessen labyrinthischem Laden längst unauffindbar geglaubte Titel zu haben waren, die Käufer und Verkäufer glücklich machten. Noch einmal mussten 1995 Regale in ein Arbeitszimmer eingepasst werden. Die Regale wuchsen bald darauf Wand um Wand erst um eine aufgesetzte Reihe, dann um eine zweite, die jeweils alle querliegenden Bücher vorübergehend in die Senkrechte zurückholten, dann wuchsen die Titel in nahezu allen Fächern in die zweite Reihe und schließlich lagen neu hinzukommende Bücher bis hoch an die Decke wieder quer obenauf.
Bei all dem war Wulf Kirsten kein Sammler, der sich an der Vollständigkeit erfreute, sondern einer, der täglich mit seiner Sammlung arbeitete, was den Büchern, denen viele Zettel und Zeitungsauschnitte eingeschoben wurden, anzusehen ist. Das Faszinierende war für mich, dass mein Vater, wenn ich ihn um literarischen Rat fragte, stets mit traumwandlerischer Sicherheit ins Regal griff, den betreffenden Band herauszog und alle nötigen Informationen über Buch und Autor extemporierte. Mitunter zog er auch die passende Karteikarte aus seinem in Karteikästen untergebrachten Schriftstellerlexikon, das sich selbstredend nicht auf Dichter beschränkte. Als ich zu Harry Domela forschte und in Jeff Lasts Buch »Vingers van de linkerhand« las, dass Domela ein Manuskript mit dem Titel »Hinter den Kulissen einer Sensation« mit zu ihm nach Amsterdam gebracht hatte, fand ich auf der entsprechenden Karteikarte den Eintrag »Hinter den Kulissen einer Sensation«, schräg darüber stand »Ms. bei Günter Kunert«.
Illustrieren soll meine Abschweifung seine Akribie und vor allem die kommunizierenden Röhren, Bücher einerseits, Lexika andererseits. Und was die kommunizierenden Röhren
anbelangte, so gehören die über der handschriftlichen Lexikonmatrix aufbewahrten Briefe organisch dazu wie auch das Telefon. Über beide stand er mit der literarischen Welt in täglichem Austausch. Wer etwas über seine Arbeits- und Denkweise lesen möchte, dem sei der Aufsatz »Literastelli« empfohlen, der im Band »Brückengang« (Ammann Verlag, 2009) zu finden ist. Neben diesem handschriftlichen Lexikon gehörte zu seinen Arbeitsmitteln der 38-bändige »Kosch«, zuzüglich des noch nicht abgeschlossenen korrespondierenden »Kosch – Das 20. Jahrhundert« sowie der »Kürschner«, die mein Vater jeweils kostenlos bezog, weil er sich als äußerst hilfreicher Mitarbeiter für schwierigste, sprich schier unlösbare Fälle, erwiesen hatte.Ein Schlüssel zum Verständnis von Wulf Kirstens Lyrikverständnis ist die von ihm herausgegebene Anthologie »Beständig ist das leicht Verletzliche. Gedichte in deutscher
Sprache von Nietzsche bis Celan« (Ammann Verlag, 2010). Ihre Anfänge reichen zurück bis in die 1960er Jahre, in die erwähnten Koffer und Kartons. 1989 sollte sie im Programm des Aufbau-Verlages erscheinen. Sie lag als Manuskript vor und der Zürcher Ammann Verlag wollte sie als Lizenz in der Schweiz, sprich im Westen, bringen. Die DDR ging unter. Die Anthologie blieb – in zwei großen Kartons – im Durchschlag erhalten. Ab den 90er Jahren erschien Wulf Kirstens Werk im Ammann Verlag. Jedes Mal, wenn mein Vater Egon Amman auf die Anthologie ansprach, antwortete er: »Wulf, wir bringen erst einmal deinen neuen Gedichtband, die Anthologie machen wir später.« Das ging über gut 17 Jahre so. Dann, als Egon Ammann schon schwer krank und das Ende des Verlages unausweichlich war, kam er nach Weimar und wir besprachen das Werden der Anthologie. Ich sollte die Scans von den holzhaltigen Durchschlägen kollationieren, also Zeile für Zeile mit den Originalen abgleichen, was ich dann gemeinsam mit meiner Mutter erledigte. Mein Vater schrieb das Nachwort, in dem er über seine Arbeitsweise Auskunft gibt, und tippte auf der Schreibmaschine das 43-seitige Inhaltsverzeichnis. Gut 80 Prozent der benötigten Titel konnten wir bei meinem Vater einfach aus dem Regal ziehen und nach getaner Arbeit wieder dort einstellen. Nur wenige Fernleihen waren zu bestellen, die meisten übrigen Titel hatte die Herzogin Anna Amalia Bibliothek.Weder mein Vater noch ich haben die Lyrikbände gezählt. Eine lückenhafte Nummerierung in den Bänden ergibt sich aus einer über die Jahre durch Reduktion der Bibliothek unscharf gewordenen Nummerierung, die wohl alle Titel, Lyrik, Prosa, Sekundärliteratur, einschloss. In summa beläuft sich die Lyriksammlung einschließlich zahlreicher Anthologien auf geschätzt 65 laufende Meter, wobei quer liegende Titel die Ungenauigkeit verstärken. Hinzu kommen einige Meter mit den erwähnten gesondert gestellten Reihen. Als Wulf Kirsten vor etlichen Jahren mit der Herzogin Anna Amalia Bibliothek den Ankauf der Lyriksammlung verabredete, fragte er den damaligen Bibliotheksdirektor Michael Knoche, ob die Sammlung in der Bibliothek in sich geschlossen gestellt würde. Er verneinte das, weil natürlich in keiner Bibliothek jede Sammlung gesondert aufgestellt werden kann.
Dass es nun die Entscheidung gibt, der Lyriksammlung Wulf Kirstens im Erdgeschoss des Studienzentrums neben dem Bücherkubus einen besonderen Stellplatz einzurichten und die Sammlung als geschlossenen Bestand zu präsentieren, das hätte Wulf Kirsten sehr gefreut. So bleibt Hugo Ball in der Nähe von Johannes R. Becher und Wolfgang Borchert, Daniela Danz nicht fern von Annette von Droste-Hülshoff, Sarah Kirsch nahe bei Reiner Kunze, B. K. Tragelehn in der Gesellschaft von Georg Trakl und Franz Werfel unweit von Paul Zech. Zu hoffen bleibt, dass die Bücher hin und wieder in die Hände von Nutzern gelangen und gelesen werden. Entdeckungen lassen sich allenthalben machen.
Jens Kirsten