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‹ alle Blogartikel anzeigen18. Oktober, 2022 — Einblattdrucke in der HAAB und ihre Geschichte – Folge 1: Weintrauben mit Bärten
Einblattdrucke gehören zu den Schätzen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, die den meisten Menschen wohl weniger bekannt sind als die historischen Bücher und Musikalien. In den kommenden Wochen stellt Ihnen Matthias Hageböck, Mitarbeiter der HAAB Bestandserhaltung/Restaurierung, drei dieser Einblattdrucke vor. Alle berichten von nicht alltäglichen Geschichten. In einer Folge geht es z. B. um ein Tier, das im 18. Jahrhundert europaweit für Aufsehen sorgte und dem derzeit eins der bedeutendsten Museen der Welt eine Sonderausstellung widmet. Lassen Sie sich überraschen und viel Spaß beim Lesen.
Maria Socolowsky, GAABEinblattdrucke, die auch als Flugblätter bezeichnet werden können, kamen gegen Ende des 15. Jahrhunderts auf. Sie waren das erste Massenkommunikationsmittel und erschienen in einer Kombination aus prägnantem Bild und Text und behandelten vielfältige Themen, beispielsweise aus den Bereichen Politik, Recht und Religion. In diese Sparten gehören unter anderem Berichte zum 30-jährigen Krieg, die Bekanntgabe von gesetzlichen Verordnungen aller Art oder polemische Schriften aus der Reformationszeit. Andere Flugblätter dienten Werbezwecken. Deshalb gelten sie als Vorläufer der heutigen Flyer. Darüber hinaus gab es aber auch sensationsheischende Einblattdrucke, die in Bild und Wort von Monstern, Missgeburten, Naturkatastrophen, Wundern oder seltsamen Begebenheiten aller Art berichteten. Zum Teil basierten derartige Berichte auf wahren Ereignissen, deren Hintergründe sich heute größtenteils erklären lassen. Andere geben der Wissenschaft bis heute Rätsel auf. Beispiele für diese spektakuläre Art von Einblattdrucken befinden sich auch im Bestand der HAAB. Einige möchten wir im GAAB-Blog vorstellen.
In der ersten Folge geht es um einen Einblattdruck, der 1580 in Nürnberg bei Hans Weygel gedruckt wurde. Es handelt sich dabei um einen äußerst seltenen Druck, der in Deutschland einzig in der HAAB nachweisbar ist. Darüber hinaus ist nur ein weiteres Exemplar in schlechtem Erhaltungszustand aus der grafischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich bekannt. Das Blatt zeigt auf der rechten Seite einen kolorierten Holzschnitt, auf dem an Zweigen mehrere Weintrauben mit langen Bärten zu sehen sind. Auf der linken Seite befindet sich ein gedruckter Text, aus dem hervorgeht, dass die Trauben 1580 vom Weinberg des Tuchhändlers H. Georgen Benatcky bei Prag gelesen wurden. Es folgt ein Gedicht, in dem das Wunderbare der Barttraube geschildert und vor den Lastern der Trunksucht und der Unkeuschheit gewarnt wird.
Der Frage nach dem wahren Kern beziehungsweise den Hintergründen dieser Meldung widmete sich Konrad Böhner in einem Aufsatz, der 1928 in den Mitteilungen der Bayerischen Botanischen Gesellschaft zur Erforschung der heimischen Flora (e.V.). 4. Bd., No. 8 veröffentlicht wurde. Zum einen geht daraus hervor, dass es bereits 1542 einen Einblattdruck gab, der von einem ähnlichen Fund aus Albersweiler bei Landau berichtete. Darauf folgte 1580 das hier vorgestellte Blatt und 1590 die erste Abbildung der »gebarteten Traube« in einem Buch und zwar in dem von Bassaeus in Frankfurt a. M. gedruckten botanischen Werk »Eicones Plantarum«. In den folgenden Jahrzehnten gab es immer wieder Meldungen von weiteren Trauben mit Bärten, die an verschiedenen Orten gefunden wurden. Bildern wurden offenbar schon zu diesen Zeiten manipuliert, denn Böhner beschreibt die Illustration zu einer bärtigen Traube, die 1615 zu Steinfels bei Weißenburg entdeckt wurde und bei der offensichtlich »eine bartordnende Hand am Werke war«. Der mittlere Teil des Bartes erschien dort unverhältnismäßig lang, während die Seiten deutlich eingekürzt waren.
Böhner berichtet im seinem Aufsatz detailliert davon, wie führende Botaniker bis in das 18. Jahrhundert hinein davon ausgingen, dass es sich bei dem Phänomen tatsächlich um eine besondere Traubenart beziehungsweise um ein Naturwunder handelt. Und dies, obwohl der italienische Arzt Petro Borelli bereits 1670 und in der Folge auch andere anerkannte Gelehrte auf die Möglichkeit einer anhaftenden Schmarotzerpflanze hingewiesen hatten. Auf des Rätsels Lösung geht Böhner am Ende seiner Ausführungen ein: »Es besteht nach allem kein Zweifel darüber, daß es sich bei der Barttraube um gar nichts anderes als um Weintrauben gehandelt hat, an welche »Cuscuta Epithymus Murray sich…angeheftet hatte, …« Der Autor bezieht sich damit auf die Quendel-Seide, ein nachtschattenartiges Gewächs aus der Familie der Windengewächse. Die Pflanze verfügt nicht über eigene Blätter zur Bildung von Kohlenstoffverbindungen. Deshalb ist sie auf verschiedene Wirtspflanzen angewiesen, an denen sie rankenartig emporwächst und dabei die in den Einblattdrucken als Bärte beschriebenen dunklen Fäden bildet.
Signatur des Einblattdrucks: 19 B 10773
Matthias Hageböck Mitarbeiter der HAAB Bestandserhaltung/Restaurierung